Definition
Wir schreiben das Jahr 2020 und die Digitalisierung ist in vollem Gange. Die Frage nach dem Faktor Mensch in dieser Zeit drängt sich so ziemlich in jeder Branche auf. Was bedeutet der technische Fortschritt nun in der Rekrutierung – Gefahr oder Chance? Wie wichtig ist der persönliche Austausch, der soziale Aspekt und das Fingerspitzengefühl? Bewerbungsprozesse sollen möglichst einfach sein, die Vakanzen überall zugänglich und potenzielle Profile werden über Job-Angebote informiert, noch bevor sie selber wissen, dass sie überhaupt einen neuen beruflichen Schritt wagen möchten. Dies klingt nach einer grossen Herausforderung für die Rolle des Recruiters.
Schaut man sich die Definition laut Wikipedia an, so klingt der Prozess der Personalbeschaffung sehr trocken, beinahe schon mechanisch:
“Die Personalbeschaffung (englisch recruitment, recruiting) ist Teil der Personalwirtschaft und befasst sich mit der Deckung eines zuvor definierten Personalbedarfs. Ihre grundsätzliche Aufgabe besteht darin, das Unternehmen bedarfsgerecht und kostengünstig mit potenziell qualitativen Arbeitskräften zu versorgen.”
Als Recruiter wirkt sich bei dieser Formulierung die Gravitation urplötzlich verstärkt auf die beiden Mundwinkel. Wo kommt hier nun der Faktor Mensch hinzu?
Entscheidungsfaktoren
Selbstverständlich ist die Personalbeschaffung – pragmatisch betrachtet – das altbekannte Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Beim Finden der passenden Person hat die Digitalisierung hier einen enormen Fortschritt gebracht. Das digitale Netzwerk verbindet Firmen mit Stellensuchenden in Sekundenschnelle, komplexe Algorithmen ermitteln, ob ein Profil – zumindest fachlich – passt. Und das alles, ohne grosses Zutun eines Menschen, insofern die Vorbereitung (Programmierung, Datenerfassung usw.) gut war. Unzählige Plattformen bieten die Möglichkeit, den CV zu präsentieren, wo Recruiter, Personaldienstleister, HR-Mitarbeitende und CEO’s ein buntes Potpourri an Profilen finden. Erinnern Sie sich noch daran, dass es mal umgekehrt war? Firmen präsentierten ihre offenen Positionen und Bewerbende warben mit aufwändigen Bewerberdossiers um diese Position. Handschriftliche Motivationsschreiben gehören längst der Vergangenheit an. Der Faktor Zeit ist wesentlich, wenn es um die Attraktivität des Bewerbungsprozesses geht. Auch hier schafft die Digitalisierung Abhilfe und kommt sowohl den Firmen als auch den Stellensuchenden zugute. Bewerbungen erfolgen online und entsprechende Rückmeldungen werden teilweise automatisiert.
Überzeugung auf drei Ebenen
Bei dieser rasanten Entwicklung gibt es jedoch auch viele Faktoren, welche sich nicht geändert haben! Eine Bewerbung muss überzeugen, und zwar auf allen Ebenen. Konkret: auf drei Ebenen.
- Ebene HR (Darstellung des CV’s, Vollständigkeit der Unterlagen, Lücken im Werdegang).
- Ebene Linie (Technologische Kenntnisse, Erfahrungen, Ausbildungen, Teamkonstellation) und
- Ebene GL (Lohn, Marktwert, Potenzial, Entwicklungsmöglichkeiten).
Auch hier kann mithilfe digitaler Technologien die Kompatibilität bewertet und eine schnelle Vorselektion durchgeführt werden. Doch bereits jetzt merkt man, dass man diese Entscheidungen vielleicht nicht vollständig einer Automatisierung überlassen möchte. Die Bewertung des Gesamtbildes und die Relativierung von Stärken und Lücken erfordern ein geschultes Auge sowie Erfahrung im Business und fundierte Kenntnisse der Materie.
Von Mensch zu Mensch
Spätestens jetzt gilt es zu betonen, dass es sich hier um ein People-Business handelt. Entsprechend wichtig ist es, auch mal einen Perspektivenwechsel zu wagen und sich in die Rolle der bewerbenden Person zu versetzen. Auf der Suche nach einer passenden und spannenden Stelle kommt das digitale Netzwerk wieder zum Tragen und ermöglicht ein schnelles und umfassendes Erforschen des Stellenmarktes. Dies ist ein enormer Fortschritt gegenüber der Zeit, als Druckerwalzen Stelleninserate ausschliesslich auf das Lokalblatt druckten. Doch dieses Netzwerk ist auch allen anderen Stellensuchenden zugänglich, wodurch die Exklusivität leidet und die Konkurrenz steigt.
Wurde eine passende Stelle gefunden, so erfreut sich der motivierte Stellensuchende eines schnellen, unkomplizierten Bewerbungsprozesses – Digitalisierung sei Dank! Wenn der Faktor Mensch bis zu diesem Zeitpunkt vom technologischen Fortschritt nicht nur unterstützt sondern auch etwas verdrängt wurde, so gewinnt er ab jetzt umso mehr an Gewicht. Ein Bewerbungsprozess – vom Finden der Stelle/der bewerbenden Person bis zum schlussendlich federgeführten Handschlag – ist meist sehr umfangreich, aufwändig und begleitet von unzähligen Entscheidungen. Aus der Sicht der bewerbenden Person sind ein persönlicher Austausch und transparente Rückmeldungen Gold wert. Unlängst hat ein namhafter Detailhändler den Versuch unternommen, die erste Vorstellungsrunde ausschliesslich per Videobotschaft des Bewerbers durchzuführen. Da dieser Prozess nicht lange aufrecht erhalten wurde, lässt sich die Interpretation wagen, dass die soziale Interaktion schlussendlich nicht einfach zu ersetzen ist.
Zurück zur anfänglichen Definition darf man sagen, dass die mechanische Formulierung der Personalbeschaffung wie eine rhetorische Blutgrätsche wirkt und die Bedeutung und der Einfluss des Menschen beinahe schon ad absurdum führt. Einen so komplexen und aufwändigen Prozess wie die Personalbeschaffung mit zwei Sätzen zu definieren, wird diesem Handwerk nicht gerecht.
Fazit
Die Digitalisierung bringt in der Personalbeschaffung enorme Vorteile mit sich. Prozesse werden automatisiert, beschleunigt und vereinfacht. Dies unterstützt auch die Recruiter und die Personalabteilungen in ihrem Bestreben, passende Profile zu finden. Dass die Rolle des Recruiters jedoch vollständig ersetzt und somit obsolet wird, kann an dieser Stelle verneint werden. Um am Puls der Zeit agieren zu können, sollte man dem technologischen Fortschritt wohlgesonnen sein und die Digitalisierung nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen.